Freitag, 28. Dezember 2012
Schema
Sie liest Blogs, flüchtig. Sie klickt sich stundenlang durch Trailer, auf YouTube. Sie hat diesen Hunger nach Geschichten, nach erzählten Menschen, die ihrem Schema entsprechen, diesem Verhalten, das ihr Körper noch vor ihrem Verstand erkennt. Menschen in Büchern, Leute in ihrem Alltag, Menschen, die zugewandt sind, ruhig, treu, aber sich ständig entziehen, zu denen spürt sie spontane Zuneigung, unweigerlich. Einen Typ hast du nicht, hatte G. lakonisch bemerkt, als sie ihm eine Nacht lang von ihren Liebesgeschichten erzählt hatte. Es ist kein Typ, tatsächlich, keine Frage des Gesichts oder des Geschlechts, sondern ein Schema: jemand ist ihr zugewandt, aber nicht erreichbar, und sie beginnt zu fallen.

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Donnerstag, 27. Dezember 2012
Ordnung
Er fehlte ihr, aber das hat wenig mit seiner An- oder Abwesenheit in ihrem Leben zu tun. Das war ihr modus operandi gewesen, auch wenn sie im gleichen Bett lagen, immer eine innere Distanz, die die Nähe irgendwie erträglich gemacht hatte, eine Grobheit im Umgang, welche die Verstrickung ineinander tragbar machte.
Deshalb auch das Schlagen. Du machst mich zu einem schlechten Menschen, hatte er gesagt. Streck deine Zunge raus. Mit einem gezielten Gertenhieb schlug er, nur die Zungespitze, aber ihre geschlossenen Augen füllten sich mit Wasser. Seine linke Hand hielt ihren Kopf fest. Es war alles so unordentlich, wie sich ihre Leben vermischt hatten, wie begierig sie manchmal war, wie respektlos. Aber mit einem Schlag in ihr Gesicht war Ordnung hergestellt, Klarheit der Gedanken, Eindeutigkeit des Schmerzes. Heute reichte ein Hieb. Leg dich hin, sagte er, und legte sich hinter sie. Er hielt sie am Hinterkopf fest im Griff, sonst liess er sie gewähren, sein linke Hand in ihrem Schritt.

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Das warme, müde Wesen
Du hast immer geschlafen, sagt A. jetzt. Du bist vor der Tür gestanden, wir hatten Sex, dann hast du dich weggedreht und geschlafen. Ich wusste nicht, ob du wegen mir her kamst, oder wegen meinen Bett. Zehn, zwölf Stunden hast du geschlafen, und dann bist du am nächsten Morgen am Tisch gesessen, mit verquollenen Augen, und wolltest nicht mit mir reden.
Ich wollte nicht über Politik reden.
Du wolltest überhaupt nicht reden. Du hast am Tisch gesessen, in deinem Müsli gestochert.
Du hast Zeitung gelesen, drei Stück jeden Morgen. Erzähl mir nicht, du hättest reden wollen.
Kleines.
Später in einer E-Mail steht dann: Und immer noch denke ich an deine morgenmüden Augen damals. Wie mich deine Verschlafenheit ärgerte und ich sie doch den ganzen Tag mit mir herumtrug, das Wissen um das warme, müde Wesen, das plötzlich in meinem Bett gelegen hatte, und ebenso unverhofft wieder verschwinden würde.
Und dann, Stunden später kommt die nächste E-Mail: Manchmal hätte ich dich gerne angebunden. An den Fussgelenken, damit du noch hättest arbeiten können. Ich hätte für dich gekocht, dir Bücher gebracht, deine Texte korrekturgelesen, und dich jeden morgen in die Wohnung eingeschlossen.

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Donnerstag, 27. Dezember 2012
Herzversagen
Als ihr Vater starb, legte sie sich in einer dramatischen Geste, von der sie damals schon wusste, dass sie eine solche war, auf den Boden ihres Zimmer, für Stunden. Ihr Rücken schmerzte bald und sie kam sich mir dumm vor, aber gleichzeitig wichtig. Ihr Vater war tot.
Das Gewicht seiner Abwesenheit nahm ihr Leben ein, sein Fehlen liess alles Vorhandene verblassen, allem voran sie selbst, oder die klägichen Versuche von Identität, die sie bis dahin hinter sich hatte. Sie war einmal eines von diesen Mädchen gewesen, das jeden Zentimeter Oberfläche genutzt hatte, um sich oder der Möglichkeit von sich Ausdruck zu geben. Sie hatte Rucksäcke mit Tipp-Ex bekritzelt und sich Worte auf die Haut gemalt, Zimmerwände mit Bildern bedeckt und Listen geschrieben, unzählige Listen von Dingen, die sie mochte, verabscheute, werden wollte. Dann starb ihr Vater und plötzlich war da diese Unsicherheit darüber, ob das alles noch etwas bedeutete.
Sie legte sich hinein in dieses Loch, das sich auftat, als wollte sie es schliessen, aber sie nahm nur seine Form an. Sie suchte Eigenschaften von ihm an sich, fand aber nicht mehr als die ungelenke Körpergrösse und seine Hände wieder.
Bevor er starb, war er ihr Vater gewesen, der hilflos neben ihrem Bett stand, wenn sie krank war. Nach seinem Tod war er Sinnbild für alles, was fehlte. Für Wochen war sie ein einziger Schmerz, aber Schmerz ist nicht etwas, das man mitteilen kann, also stand sie vor ihrer Schulklasse und hielt einen Vortrag über Freud, aber die Mitschüler waren schon keine Mitschüler mehr, sie war nicht mehr Teil dieser Gruppe, die ihr mit hilflosem Mitgefühl begegnete und bewunderte, dass sie so tapfer sei und schon wieder am Unterricht teilnehme, und während sie über Ödipus redete, dachte sie Sätze wie: ich möchte alle meine Organe erbrechen. Wenn sie am Strassenrand stand, stellte sich den Aufprall von einem Bus und ihrem Körper vor. Nicht, weil sie sich gefährden wollte, sondern weil sie zu gern diesen Aufprall gespürt hätte. Das müsste ihr ein Gefühl für sich selber zurückgeben, so die gefühlte Logik, zumindest für einen Moment. Dann wiederum war ihr Leben zu lieb und Selbstverletzung zu theatralisch. Sie hielt es also für klug, sich statt vor einen Bus an einen Mann zu werfen.
Der Mann war A., ein bitterer Anwalt. Er war der Erste, der sie für das erkannte, was sie war: ein schmerzendes Etwas, das nicht getröstet sein wollte, und das war genug an Übereinstimmung. Also las sie sich neben ihm im Bett zusammengerollt durch ihr Grundstudium, bis er weg zog. Ein paar mal noch sahen sie sich, aber dann trug sie sich zum nächsten, wie eine Katze ihre Maus.

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Gschleipf
Sie war achtzehn und schaute aus dem Fenster, als plötzlich alle lachten. Der alte Geschichtslehrer grinste sie an, über sein kleines Pültchen gebeugt. "Was?" fragte sie, aber der Lehrer fuhr mit dem Unterricht fort, mit seinem Bernerischen Hochdeutsch und seinen ungeschickt gestikulierenden Händen.
"Was war los?" fragte sie nach der Stunde. Die Mitschülerinnen grinsten und wiederholten, was der Lehrer gesagt hatte, als sie aus dem Fenster schaute: "Meitschi, hesch es Gschleipf?"
Und ja, ein Gschleipf hatte sie. Mit ihm, mit sich, mit dem Leben. Immer wars ein Zeugs mit ihr, nie konnte sie sich richtig entscheiden, immer wollte sie nicht nur das eine, das hatte er gestern erst gesagt. Zehn Jahre später, und nicht hat sich geändert, denkt sie: Immer noch alles ein Gschleipf.

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