Montag, 31. Dezember 2012
Kaffee
Und wie sie so die Strasse zur Universität hochgeht, läuft sie ihren täglichen Gedankenweg ab, sie schlängelt sich durch den Verkehrstumult, in ihrem ganz grundsätzlichen Einzelpersonentum. Sie steht zwischen Fussgängern vor Ampeln, mit sich und Musik, zieht die Strümpfe über die Knie und geht ihre Männertopographie ab; die Tramstation, an der sie T. getroffen hatte, das Café, in dem A. sie so angesehen hatte, damals nach dem Vortrag, das Bürogebäude, in dem J. sie gepackt und geschüttelt hatte. Sie hört “Solistice”, und sieht A. da stehen, und das ganze Hier und Her in ihrem Kopf wird hinfällig, weil er auf sie wartet, und ihre Hände kalt sind, und ihre Knie, sein geduldiges Warten ist genug, um alles an Ort und Stelle zu rücken. Er nimmt ihre Hände kurz in seine, pustet gegen die Kälte. Seine Wärme, das hat sie längst gelernt, ist wenig metaphorisch. Sie möchte ihre Stirn gegen seinen Oberkörper stossen, aber sie steht nur vor ihm und sagt: “Kaffee.”

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Samstag, 29. Dezember 2012
Schläfe
Immer wieder A. Es ist nicht das erste Mal, als M. bei ihr schläft, aber sie hält es nicht aus im Bett, neben ihm. Sie sitzt auf dem Sofa, den Rechner auf dem Schoss, als es klingelt. Sie stolpert aus dem Zimmer, halb angezogen, wickelt sich in einen Schal und öffnet die Tür. Als er in der Tür steht, ärgert sie sich, nicht angezogener zu sein.
Sie sagt, “Ich bin nicht allein.”
Er schaut sie einen Moment lang an.
“Ich hätte nicht herkommen sollen.”
“Du hättest anrufen können.”
“Dir ist kalt.” Er zieht sein Jackett aus und legt es ihr über die Schultern. “Wie ritterlich.”
Er lächelt, dann zieht er sie an sich, küsst ihre Schläfe. Für einen Moment bleiben sie so stehen, dann sagt er, “Du riechst nach seinem Aftershave,” und lässt sie los. Er seufzt. “Hast du was zu essen da?” fragt er, und geht in die Küche. “Nicht viel,” sagt sie, aber er steht schon am Kühlschrank. Er nimmt Zucchini und Eier heraus, und beginnt, die Schränke zu durchsuchen. Sie setzt sich an den Küchentisch, und legt sich den Schal über die Beine. Ihr ist nicht mehr kalt, aber sie zittert noch.
Beim Zwiebelschneiden fragt er, “Wer ist er?”
“Von der Uni.”
Sie schweigen, er brät Zucchini an. Sie fragt ihn, ob er ein Bier mag, öffnet eines, stellt es neben ihn. Er trinkt und schaut sie dabei an. Für einen Moment gibt es sie.
Dann fasst er sie an den Nacken, greift in ihr Haar, zieht daran. “Du bist dünner geworden,” sagt er, “du musst was essen.” Die Schlafzimmertür geht, er lässt ihr Haar los, und M. steht in der Küchentür.
“Haben wir dich geweckt?”
Sie stellt beide einander vor. Danach laute Stille.
“Isst du mit?” fragt A.
“Ähm, nein, ich glaub, ich geh—.” Er zeigt zum Schlafzimmer.
“Okay.”
Er bleibt noch einen Moment stehen, schaut sie an und geht dann. Sie isst mit A. Sie winkelt ein Bein an, zwischen sich und dem Tisch, und sieht, wie er es sieht, das Gesicht verzeiht, aber nichts sagt. Sie weiss, dass er sagen will, “Setz dich recht hin.” Aber er weiss, dass er kein Recht mehr dazu hat. Er schaut sie nicht mehr an. Beim Abwaschen fragt er sie über ihre Arbeit aus, sie reden über Robert Walser, den er nicht mag, und Herta Müller, die er nicht gelesen hat.
Dann sagt er, “Er sieht nicht aus wie ein Student.”
“Er ist kein Student.”
“Sondern?”
Sie zögert. “Privatdozent.” Für einen Moment dreht er sich um und schaut sie an. Dann schneidet er weiter und sagt, “Klar.”
Als das Wasser abgiesst, stellt er sich hinter sie, und während sie noch die Teller trocknet, sind seine Hände an ihrem Bauch. Dann küsst er ihren Nacken und sie bewegt sich nicht mehr. Er drückt sie gegen den Küchentresen, legt seinen Mund an ihr Ohr und sag dann, “Ich würde dich gerne ficken, während er nebenan auf dich wartet.”
Dann lässt er sie los. Er sagt, “Ich sollte gehen.” Sie räumt die Teller weg.
Als sie sich umdreht, schaut A. sie an. “Oh.” Sie zieht das Jackett aus. Er greift nochmals ihr Haar, dreht ihren Kopf zur Seite und küsst sie auf die Schläfe. Warum immer die Schläfe, denkt sie und er geht.
Als sie ins Schlafzimmer kommt, sitzt M. im Bett, wartend.

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Donnerstag, 27. Dezember 2012
Ordnung
Er fehlte ihr, aber das hat wenig mit seiner An- oder Abwesenheit in ihrem Leben zu tun. Das war ihr modus operandi gewesen, auch wenn sie im gleichen Bett lagen, immer eine innere Distanz, die die Nähe irgendwie erträglich gemacht hatte, eine Grobheit im Umgang, welche die Verstrickung ineinander tragbar machte.
Deshalb auch das Schlagen. Du machst mich zu einem schlechten Menschen, hatte er gesagt. Streck deine Zunge raus. Mit einem gezielten Gertenhieb schlug er, nur die Zungespitze, aber ihre geschlossenen Augen füllten sich mit Wasser. Seine linke Hand hielt ihren Kopf fest. Es war alles so unordentlich, wie sich ihre Leben vermischt hatten, wie begierig sie manchmal war, wie respektlos. Aber mit einem Schlag in ihr Gesicht war Ordnung hergestellt, Klarheit der Gedanken, Eindeutigkeit des Schmerzes. Heute reichte ein Hieb. Leg dich hin, sagte er, und legte sich hinter sie. Er hielt sie am Hinterkopf fest im Griff, sonst liess er sie gewähren, sein linke Hand in ihrem Schritt.

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Das warme, müde Wesen
Du hast immer geschlafen, sagt A. jetzt. Du bist vor der Tür gestanden, wir hatten Sex, dann hast du dich weggedreht und geschlafen. Ich wusste nicht, ob du wegen mir her kamst, oder wegen meinen Bett. Zehn, zwölf Stunden hast du geschlafen, und dann bist du am nächsten Morgen am Tisch gesessen, mit verquollenen Augen, und wolltest nicht mit mir reden.
Ich wollte nicht über Politik reden.
Du wolltest überhaupt nicht reden. Du hast am Tisch gesessen, in deinem Müsli gestochert.
Du hast Zeitung gelesen, drei Stück jeden Morgen. Erzähl mir nicht, du hättest reden wollen.
Kleines.
Später in einer E-Mail steht dann: Und immer noch denke ich an deine morgenmüden Augen damals. Wie mich deine Verschlafenheit ärgerte und ich sie doch den ganzen Tag mit mir herumtrug, das Wissen um das warme, müde Wesen, das plötzlich in meinem Bett gelegen hatte, und ebenso unverhofft wieder verschwinden würde.
Und dann, Stunden später kommt die nächste E-Mail: Manchmal hätte ich dich gerne angebunden. An den Fussgelenken, damit du noch hättest arbeiten können. Ich hätte für dich gekocht, dir Bücher gebracht, deine Texte korrekturgelesen, und dich jeden morgen in die Wohnung eingeschlossen.

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Donnerstag, 27. Dezember 2012
Herzversagen
Als ihr Vater starb, legte sie sich in einer dramatischen Geste, von der sie damals schon wusste, dass sie eine solche war, auf den Boden ihres Zimmer, für Stunden. Ihr Rücken schmerzte bald und sie kam sich mir dumm vor, aber gleichzeitig wichtig. Ihr Vater war tot.
Das Gewicht seiner Abwesenheit nahm ihr Leben ein, sein Fehlen liess alles Vorhandene verblassen, allem voran sie selbst, oder die klägichen Versuche von Identität, die sie bis dahin hinter sich hatte. Sie war einmal eines von diesen Mädchen gewesen, das jeden Zentimeter Oberfläche genutzt hatte, um sich oder der Möglichkeit von sich Ausdruck zu geben. Sie hatte Rucksäcke mit Tipp-Ex bekritzelt und sich Worte auf die Haut gemalt, Zimmerwände mit Bildern bedeckt und Listen geschrieben, unzählige Listen von Dingen, die sie mochte, verabscheute, werden wollte. Dann starb ihr Vater und plötzlich war da diese Unsicherheit darüber, ob das alles noch etwas bedeutete.
Sie legte sich hinein in dieses Loch, das sich auftat, als wollte sie es schliessen, aber sie nahm nur seine Form an. Sie suchte Eigenschaften von ihm an sich, fand aber nicht mehr als die ungelenke Körpergrösse und seine Hände wieder.
Bevor er starb, war er ihr Vater gewesen, der hilflos neben ihrem Bett stand, wenn sie krank war. Nach seinem Tod war er Sinnbild für alles, was fehlte. Für Wochen war sie ein einziger Schmerz, aber Schmerz ist nicht etwas, das man mitteilen kann, also stand sie vor ihrer Schulklasse und hielt einen Vortrag über Freud, aber die Mitschüler waren schon keine Mitschüler mehr, sie war nicht mehr Teil dieser Gruppe, die ihr mit hilflosem Mitgefühl begegnete und bewunderte, dass sie so tapfer sei und schon wieder am Unterricht teilnehme, und während sie über Ödipus redete, dachte sie Sätze wie: ich möchte alle meine Organe erbrechen. Wenn sie am Strassenrand stand, stellte sich den Aufprall von einem Bus und ihrem Körper vor. Nicht, weil sie sich gefährden wollte, sondern weil sie zu gern diesen Aufprall gespürt hätte. Das müsste ihr ein Gefühl für sich selber zurückgeben, so die gefühlte Logik, zumindest für einen Moment. Dann wiederum war ihr Leben zu lieb und Selbstverletzung zu theatralisch. Sie hielt es also für klug, sich statt vor einen Bus an einen Mann zu werfen.
Der Mann war A., ein bitterer Anwalt. Er war der Erste, der sie für das erkannte, was sie war: ein schmerzendes Etwas, das nicht getröstet sein wollte, und das war genug an Übereinstimmung. Also las sie sich neben ihm im Bett zusammengerollt durch ihr Grundstudium, bis er weg zog. Ein paar mal noch sahen sie sich, aber dann trug sie sich zum nächsten, wie eine Katze ihre Maus.

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