Freitag, 4. Januar 2013
Flüchtig
Das Schlimmste war das Planen. Diese flüchtigen Momente, ein vages Wollen, das fühlte sich gut an, wenn er im Zug sass, und die Beine von Frauen sah, dann fühlte er sich wieder mehr wie sich, nicht Familienvater. Familienvater, dieser Aufopferungsbegriff, der eine Aufwertung sein sollte, ihn aber letztlich einfach Kraft eines Begriffs zwingt, jeden Tag  jemand zu sein, jemand, der Essen nach Hause trägt, Frauen nicht sieht und die Windeln einer Achtjährigen, einer verdammten Achtjährigen wechselt. Er korrigiert sich, nicht über das Mädchen flucht er, sondern über die Achtjährigkeit seiner hilflosen Tochter, und wieder schleicht sich das Kraftwort in seine Gedanken ein, seiner verdammten achtjährigen Tochter. Ohne Komma, das war der Unterschied, keine verdammte und achtjährige Tochter, sondern eine verdammte Achtjährige. Er hatte ob des Gedankenfluchens die Knie vergessen, der eine Moment an diesem Tag, der ihm das Gefühl gab, jemand zu sein, weil Begehren jemanden voraussetzt. Vatergefühle auch, er hat weiss Gott genug davon, so viele, dass sie in fast auslöschen. Frauenbeine, sagt er sich, schliesst die Augen, und versucht an Frauenbeine zu denken, Beine, die sich fremd anfühlen.

So fing das an, mit dem Planen. Weil der Gedanke an Frauenkörper ihm so ein Selbstgefühl zurückgab, weil er im Zug manchmal Zeit hatte, sich das vorzustellen, wie das wäre, wieder so angeschaut zu werden. Fluchtphantasien, nicht mehr, bis dann die Idee mit dem Internet kam, und von da an ging alles schnell, aber dennoch musste es durchdacht sein, Vorkehrungen mussten getroffen sein, und da fingen dann auch endlich die Schuldgefühle an. Der Gedanke war ein Trost, flüchtig im zweifachen Wortsinn, das Planen aber, das fühlte sich niederträchtig an. Trotzdem. Ein organisatorisches Problem schon, den Account zu erstellen. Wachliegen, nachts, phantasierend, dann war der Account erstellt, aber der User vollkommen hilflos, wieder nächtelanges Wachliegen, Angst, etwas Scham auch, entdeckt zu werden, der Angaben wegen, die sich richtig anfühlten, solange an eine potentielle Person gerichtet, aber verlogen und albern, bei der Vorstellung, dass jemand anderes sie lesen könnte. Er bringt Adelina ins Bett und weint, auf der Bettkante sitzend. Alles fühlt sich falsch an.

Dann schreibt jemand. Er sitzt um ein Uhr morgens am Esstisch, Herzrasen, klickt, klickt nochmal. Er hatte ein Bild mitgeschickt, bei der etwas ziellosen Anfrage, hatte nicht gewagt, dass Profil zu bebildern. Jetzt schreibt sie, dass das Bild ihr gefalle, und diese ironische Selbstbeschreibung. Längst hat er eine Erektion, und ist kämpft mit der Tatsache ihrer Scheibfehler. Tippfehler, sagt er sich, und weiss, dass es nicht stimmt, sie sind zu regelmässig. Dann blinkt ein Feld. A. ist online, er hatte sie angeschrieben, jetzt ist sie online und sagt: hi. Wieder Herzklopfen bis zum Hals. Er sagt: hi, na, sagt sie, er, na, dann beisst er sich auf die Zunge, wie albern, nachgetippt, wie heisst du, tippt er, um initiativ zu sein, dann schreibt sie einen Moment lang nicht zurück, Idiot, denkt er, das steht ja da. das steht ja da, sagt sie. Dann ein smiley. Er ist hilflos, viel zu aufgeregt, hat Angst, dass jemand zur Tür reinkommt, ist übernächtigt, von den schlaflosen Nächten, irgendwo zwischen Erregung und blanker Panik.

Schliesslich das Treffen. Er zieht sein bestes Hemd an, schämt sich etwas für seine praktischen Schuhe. Zum ersten Mal seit Jahren kümmert ihn, was er trägt. Sie sitzt schon da, als er zur Tür herein kommt, sie liest, aber er erkennt sie sofort. “Bin ich zu spät?” fragt er. Sie sagt: “Ja. Ich warte schon seit Stunden,” aber sie lächelt, als sie sein erschrockenes Gesicht sieht. “Nein, keine Sorge, ich arbeite nur manchmal hier.” “Das ist Arbeit?” fragt er, und sie reden über Arbeit. Es ist das dritte Treffen dieser Art und zum ersten mal fällt alles daran leicht. Sie ist nicht besonders hübsch, aber sie hat dunkle, aufmerksame Augen und schöne Beine.

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