Dienstag, 29. Januar 2013
Vorbeisehen
Er liebt Adelina, wenn sie in der Badewanne sitzt. Die Haare kleben an ihrem Kopf, und sie macht leise Geräusche. Sie fühlt, mit ihrem ganzen kleinen Körper, fühlt ohne Worte für das Gefühl, dieses Wesen, dass ganz Körper ist. Er sitzt daneben und sieht ihr beim Fühlen zu, sie murmelt ins Wasser. Es ist der schönste Moment seit Wochen.

In Texten über Familien mit behinderten Kindern findet man oft Sätze wie: Wenn es Olivia gut geht, geht es uns allen gut. Was damit gesagt sein will ist: Olivia, das Down-Syndrom-Mädchen, ist unser Sonnenschein. Was es aber, so ist er sicher, eigentlich heisst, ist: Das Glück der Familie hängt am Geduldsfaden des Mädchens. Das Wohlbefinden aller anderen korreliert direkt mit dem des behinderten Kindes, eine absolute Abhängigkeit. Dieser immer und immer wiederkehrende Sonnenscheinscheiss heisst nämlich auch: wenn sie nicht mag, geht es allen andern schlecht.

Trotzdem kann er sich jetzt nicht an ihr satt sehen, wie sie gurgelt, und an ihm vorbei sieht. Er hat gelernt, das an ihr zu mögen. Dass sie immer an allem vorbeisieht. Manchmal, wenn alles zu viel wird, imitiert er das, setzt ihren vakanten Blick auf, lässt die Augen an nichts mehr halten und sagt sich: nichts macht einen Unterschied. Das ist ein sicherer Schutz, Desinteresse als dichte Grenze zwischen innen und aussen.

Er liegt bei Anna im Bett, sie redet, in der Küche, mit diesem Typen, der plötzlich im Wohnung gestanden war. Er liegt da und sieht am Licht neben ihrem Bett vorbei und denkt: nichts macht einen Unterschied. Er denkt an das Kind, dass jetzt im warmen Bett liegt, sich vielleicht wiegt, wie sie das so oft macht, wenn sie alleine ist. Jetzt liegt er also bei Anna im Bett und sehnt sich nach Adelina und ihrer Gleichgültigkeit, nach monatelangem Wachliegen in Adelinas Bett, an Anna denkend.

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