Freitag, 4. Januar 2013
Adelina
Das Kind windet sich. Sie drückt ihren Rücken durch, wirft sich im Kinderwagen hin und her.
Sag nicht das Kind. Sag sie. Adelina.
Aber sie ist kein Mädchen. Sie weiss nicht, was das ist: ein Mädchen sein. Sie fällt durch alle Register. Ausser eben: Kind. Das bleibt.
Darum ist auch der Name manchmal traurig. Weil Adelina die Idee eines Mädchens bezeichnet. Eines Mädchens, dass eine Frau werden sollte. Sie hatten ihr den Namen gegeben, als sie noch ein Bild in ihren Köpfen war, und trauten sich nicht, ihn ihr wieder wegzunehmen. Nur weil sie diese grossen Augen hat, dieses runde Gesicht, dass weder ihm noch Helen gleicht.
Alle bemühen sich, den richtigen Namen zu sagen: ein Trisomiekind, aber er denkt oft den unkorrekten Namen, weil er die Fremdheit treffend findet, für diese mehr als geographische Distanz zwischen dem Kind und ihm: Mongolisch.
Dann sitzt sie in der Wanne, man sieht ihrem Gesicht an, dass sie die Wärme des Wassers mit ihrem ganzen Wesen spürt. Sie macht leise Geräusche, und in dieser konzentrierten Wahrnehmung ist soviel Eigenheit, für einen Moment sieht er das fühlende Wesen vor sich, das sie ist, ihr Blick hält sich an nichts, aber ihr ganzer Körper scheint wahrzunehmen. Und in dieser Absolutheit der Wahrnehmung ist sie ganz sich selbst. Adelina.
Ihr Körper ist der eines Mädchens. Er ist vollständig. Wunderschön, auch. Ein Kinderkörper voller Wachstum, voller Potential. Das ist die Schönheit der Kinderkörper. Das Unfertige, das Mögliche.
Doch Adelinas Wachstum macht ihm Angst. Sie windet sich. Noch ist sie ein kleiner Kinderkörper. Das bringt ihn manchmal an den Rand der Verzweiflung, wie sie sich windet, sich sträubt. Wie halte ich sie, wenn sie einen Frauenkörper hat, fragt er sich.
Sie arbeiten gegeneinander. Er steht hilflos daneben, innerlich, und sieht sich leer schluckend dabei zu, wenn er ihr etwas antut. Weil beides schlecht für sie ist: etwas mit ihr machen, und sie sich überlassen. Er wickelt sie, weil nicht gewickelt werden nur minimal schlimmer ist, als so gehandhabt zu werden, ohne zu verstehen, warum er das mit ihr macht. Da ist so viel Bitterkeit. Sie kämpfen miteinander, und keiner gewinnt.

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