Samstag, 9. Februar 2013
Kohärenz
Das erste Treffen war vor zwei Jahren, da war sie noch Studentin. Inzwischen ist sie Doktorandin. Sie hat ein unaufgeräumtes Gesicht, trägt kurze Röcke und denkt schnell. Er könnte ihr stundenlang beim Reden zuhören. Sie aber will immer gleich mit ihm schlafen, um sich dann wegzudrehen und zu schlafen.

Er mag den Gedanken an sie manchmal lieber als sie selbst. Er sitzt im Sessel im Wohnzimmer, Adelina spielt. Er stellt sich vor, dass Anna jetzt von der Uni nach Hause läuft, vielleicht trinkt sie noch etwas mit ihrer Freundin vom Seminar, sie hört Musik auf dem nach Hause weg, sie kämpft mit Sachen, das weiss er, mit dem Seminar, das nicht recht läuft, mit der Doktorarbeit, die, wie sie sagt, eine Anhäufung von Baustellen ist, aber trotzdem sieht er sie morgens zur Uni laufen, wenn er mit dem Hund und Adelina draussen ist, hofft, dass sie ihn nicht sieht, und dann trägt er dieses Bild den ganzen Tag mit sich herum, die Leichtigkeit, dieses Einzelpersonentum, um das er sie manchmal beneidet, und wie von aussen einfach alles so schlüssig wirkt, Studentin sein, Doktorandin werden, jeden morgen auf den Zug und zur Uni laufen, und abends nach Hause.

Einmal lagen sie nebeneinander im Bett, er wollte etwas sagen, und sah erst da, dass sie schon ein Buch in der Hand hatte. Er hatte sich kaum gefasst, und sie las schon wieder konzentriert. “Warum liest du jetzt?” fragte er. Sie liess das Buch sinken, und schaute ihn an. Sie fragte: “Warum macht man überhaupt irgendetwas?”
Er: “Das ist keine Antwort.”
Sie: “Das ist Arbeit.”
Er: “Warum arbeitest du jetzt?”
Sie: “Das Buch lag da.”
Er nimmt ihr das Buch aus der Hand, und lässt es über den Boden in die nächste Ecke schlittern. “Jetzt liegt es dort.” Sie lächelt, schwankt aber noch zwischen belustigt und genervt.
Er: “Sei mal einen Moment hier. Mit mir.”
Sie: “Ich bin hier.”
Er: “Nein, du entziehst dich. Das ist, was du machst mit dem Lesen: Du entziehst dich allem. Darum hast du Literatur studiert, darum schreibst du über Absenz. Du entziehst dich.”
Dann sagte sie: “Hör auf, mich zu lesen, nur weil du kein Buch hast. Das wäre schön, wenn mein Leben so kohärent wäre, wie du dir das vorstellst.” Er weiss, dass sie recht hat: Schlüssig sind immer nur die Leben von anderen. Das eigene Leben ist immer ein Ansammlung von Inkohärenzen und Zufällen.

Er hasste sie ein bisschen, und liebte sie sehr, in dem Moment. Weil sie, im Gegensatz zu ihm, sehr wohl ein schlüssiges Leben hatte, und kein genetischer Zufall ihren Alltag bestimmte. Aber gerade deshalb war ja ihr Bett eine Zuflucht. Er schaute an die Decke, sie streichelte seinen Oberkörper, bis er einschlief, und sie nach ihrem Buch hangelte.

... link (0 Kommentare)   ... comment