Dienstag, 1. Juli 2014
Der Andere
Sie schläft gerne allein. Nur wenn sie allein schläft, kann sie sich vorstellen, dass jemand hinter ihr liegt. Meist Thomas. Die Vorstellung, die sie von Thomas hat, hat wenig mit Thomas zu tun, das sie weiss sie inzwischen selbst. Thomas ist nicht nur nicht da. Thomas ist, was fehlt.
Vielleicht ist er ihre grosse Liebe. Vielleicht aber ist er nur der Name, den sie der Unvollkommenheit ihres Lebens gegeben hat. Vielleicht sind die beiden ein und das selbe.
Jahre, nun schon. Sie ist sich sicher, wenn er tatsächlich in ihrem Leben wäre, würde sie ihm gegenüber ebenso zerrissene Gefühle haben, wie allen anderen Männern, die schon in ihrem Bett gelegen haben. Wilde Zuneigung und zärtlicher Hass. Sehnsucht und Überdruss, im Wechselschritt. Aber er hat sich nie auf sie eingelassen, und jetzt lebt sie mit der leisen Angst, dass sie sich bei ihm sicher gewesen wäre, bei ihm hätte sie sich nicht mit der Frage herumschlagen müssen, ob sie das alles will, einfach weil sie ihn nie haben konnte.
Aber die Angst ist auch eine Hoffnung. Und immer wieder erwischt sie sich bei diesem Vergleich, keinen wollte sie so sehr, hört sie sich denken, wie ihn. Unsinn, versucht sie sich zu sagen, oft genug hat sie das anderen erklärt: Der eine, so ein albernes, normatives Gerede. Und trotzdem hält ein Teil von ihr allem Verstand zum Trotz an dieser alten, zerstörerischen Gesichte fest: Der eine. Denn Einmaligkeit scheint alles bedeutsamer zu machen, nur bei ihm hatte sie das Herzklopfen, nur bei ihm, irgendwas, so ein Scheiss, sagt ihr Kopf, und dieses verbissene kleine Tier in ihrem Magen verkrallt sich weiter in diese Geschichte.

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