Donnerstag, 27. Dezember 2012
Herzversagen
Als ihr Vater starb, legte sie sich in einer dramatischen Geste, von der sie damals schon wusste, dass sie eine solche war, auf den Boden ihres Zimmer, für Stunden. Ihr Rücken schmerzte bald und sie kam sich mir dumm vor, aber gleichzeitig wichtig. Ihr Vater war tot.
Das Gewicht seiner Abwesenheit nahm ihr Leben ein, sein Fehlen liess alles Vorhandene verblassen, allem voran sie selbst, oder die klägichen Versuche von Identität, die sie bis dahin hinter sich hatte. Sie war einmal eines von diesen Mädchen gewesen, das jeden Zentimeter Oberfläche genutzt hatte, um sich oder der Möglichkeit von sich Ausdruck zu geben. Sie hatte Rucksäcke mit Tipp-Ex bekritzelt und sich Worte auf die Haut gemalt, Zimmerwände mit Bildern bedeckt und Listen geschrieben, unzählige Listen von Dingen, die sie mochte, verabscheute, werden wollte. Dann starb ihr Vater und plötzlich war da diese Unsicherheit darüber, ob das alles noch etwas bedeutete.
Sie legte sich hinein in dieses Loch, das sich auftat, als wollte sie es schliessen, aber sie nahm nur seine Form an. Sie suchte Eigenschaften von ihm an sich, fand aber nicht mehr als die ungelenke Körpergrösse und seine Hände wieder.
Bevor er starb, war er ihr Vater gewesen, der hilflos neben ihrem Bett stand, wenn sie krank war. Nach seinem Tod war er Sinnbild für alles, was fehlte. Für Wochen war sie ein einziger Schmerz, aber Schmerz ist nicht etwas, das man mitteilen kann, also stand sie vor ihrer Schulklasse und hielt einen Vortrag über Freud, aber die Mitschüler waren schon keine Mitschüler mehr, sie war nicht mehr Teil dieser Gruppe, die ihr mit hilflosem Mitgefühl begegnete und bewunderte, dass sie so tapfer sei und schon wieder am Unterricht teilnehme, und während sie über Ödipus redete, dachte sie Sätze wie: ich möchte alle meine Organe erbrechen. Wenn sie am Strassenrand stand, stellte sich den Aufprall von einem Bus und ihrem Körper vor. Nicht, weil sie sich gefährden wollte, sondern weil sie zu gern diesen Aufprall gespürt hätte. Das müsste ihr ein Gefühl für sich selber zurückgeben, so die gefühlte Logik, zumindest für einen Moment. Dann wiederum war ihr Leben zu lieb und Selbstverletzung zu theatralisch. Sie hielt es also für klug, sich statt vor einen Bus an einen Mann zu werfen.
Der Mann war A., ein bitterer Anwalt. Er war der Erste, der sie für das erkannte, was sie war: ein schmerzendes Etwas, das nicht getröstet sein wollte, und das war genug an Übereinstimmung. Also las sie sich neben ihm im Bett zusammengerollt durch ihr Grundstudium, bis er weg zog. Ein paar mal noch sahen sie sich, aber dann trug sie sich zum nächsten, wie eine Katze ihre Maus.

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Gschleipf
Sie war achtzehn und schaute aus dem Fenster, als plötzlich alle lachten. Der alte Geschichtslehrer grinste sie an, über sein kleines Pültchen gebeugt. "Was?" fragte sie, aber der Lehrer fuhr mit dem Unterricht fort, mit seinem Bernerischen Hochdeutsch und seinen ungeschickt gestikulierenden Händen.
"Was war los?" fragte sie nach der Stunde. Die Mitschülerinnen grinsten und wiederholten, was der Lehrer gesagt hatte, als sie aus dem Fenster schaute: "Meitschi, hesch es Gschleipf?"
Und ja, ein Gschleipf hatte sie. Mit ihm, mit sich, mit dem Leben. Immer wars ein Zeugs mit ihr, nie konnte sie sich richtig entscheiden, immer wollte sie nicht nur das eine, das hatte er gestern erst gesagt. Zehn Jahre später, und nicht hat sich geändert, denkt sie: Immer noch alles ein Gschleipf.

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